Bei Kontron war es Liebe auf den zweiten Blick: Als sich immer mehr Unternehmen Raspberry Pi als Grundlage wünschten, sah es zunächst nach einem Wettbewerb zu bestehenden Angeboten aus. Oftmals hatten Kunden bereits einen Testaufbau ausprobiert und wollten auf dieser Grundlage ein industrietaugliches Massenprodukt entwickeln. Andere Rechnerplattformen kamen damit nicht infrage, da die genutzte Software nur auf Raspberry-Pi-Hardware läuft. Deshalb entschloss sich der Embedded-Anbieter eine Industrie-taugliche Lösung auf Basis des Einplatinenrechners zu entwickeln.
Schnelle Hardware-Inbetriebnahme
So entstand das industrielle Baseboard Pi-Tron, um die Raspberry-Pi-Community-Software nutzen zu können. Als Grundlage diente das Compute-Modul aus dem Raspberry-Portfolio, das Mikroprozessor, Speicher und Gehäuse umfasst. Diese kleine Kompaktsteuerung mit Anschluss verfügt über einige Kommunikationsschnittstellen, Ein- und Ausgänge und einen 24-Volt-Anschluss für Schaltschrankanwendungen. Entscheidend war jedoch das Kühlkonzept, mit dem überhaupt erst der robuste Einsatz in industrieüblichen Temperaturbereichen möglich wird. Die Verlustwärme des Rechners führen Kühlkörper ab, die an der CPU und deren thermischen Kopplung ans Gehäuse angebracht sind. So werden Leistungsschwankungen durch das Absenken der Prozessor-Taktfrequenz vermieden. Zum Einsatz kamen nur Bauteile, die von der Community-Software unterstützt werden.
Während bei einer Hardware-Inbetriebnahme Zeitspannen von zwei bis drei Wochen durchaus üblich sind, lief die Hardware auf Basis von Raspberry Pi praktisch auf Anhieb. Pi-Tron setzt den Schwerpunkt mehr in den Kommunikationsfunktionen und findet daher oft als Gateway oder Datenlogger Verwendung.
YouTube-Video: PiXtend und Pi-Tron – Raspberry Pi für anspruchsvolle Industrieprojekte
Raspberry-Pi-Plattform für den Einsatz im Schaltschrank
Nachdem die Rechte an den PiXtend-Produkten von Qube Solutions erworben wurden, kam die Produktlinie PiXtend hinzu. Gerade im Maschinen- und Anlagenbau ist ein Einsatz der Bauteile im Schaltschrank typisch. So lassen sich diese Produkte, durch Printklemmen auf der Hutschiene unterbringen. Sie eignen sich sehr gut für Steuerungsanwendungen, bei denen Sensorik und Aktorik in größerer Anzahl über die I/O-Ports integriert werden kann.
Im Automatisierungsumfeld gilt die integrierte Entwicklungsumgebung CODESYS für speicherprogrammierbare Steuerungen auf Basis von IEC 61131-3 als ein Standard für die Applikationsentwicklung. Bei PiXtend ist CODESYS als kostenfreie Testlizenz bereits enthalten. Die Boards gibt es in verschiedenen Ausführungen mit mehr oder weniger Anschlüssen. Im SPS-Umfeld ist die Entscheidung bezüglich der Hardware letztlich eine Philosophiefrage: Wer aus der Raspberry- Pi-Welt kommt, entscheidet sich wahrscheinlich eher für ein Produkt wie PiXtend, das als SPS wie ein Kleinrechner mit vielen Anschlüssen für Sensoren und Aktoren fungiert. Entwickler können die vorinstallierte CODESYS-Version zu Testzwecken jeweils zwei Stunden nutzen, dann muss neu gestartet werden. So lässt sich alles kostenlos ausprobieren. Steht ein Produktiveinsatz an, kann eine Profilizenz gekauft und aktiviert werden.
Schlankes System – auch für Industrie 4.0
Das Mini-SPS-System mit ergänzenden I/O-Modulen stellt eine schlanke Alternative zu den großen SPS-Systemen dar. Es eignet sich als Baukasten für Automatisierungs- und Schaltschranklösungen. Oftmals sind die Anforderungen hier sehr individuell. Anstatt den Baukasten aufzublähen, setzt Kontron auf Anpassungsfähigkeit mit einer sinnvollen Kombination aus CPU, Standard-I/O sowie individuellen Schnittstellen- und I/O-Modulen. Gerade im Umfeld von Industrie 4.0 spielt dies eine wichtige Rolle, wo es um die zunehmende Vernetzung von Maschinen und Anlagen untereinander und zu übergeordneten Systemen geht, aber auch um die Verbindung mit intelligenten Geräten wie Frequenzumrichter oder Servo-Regler.
Beim Industrie-Einsatz ist es zudem wichtig, unterschiedlichste Kommunikationsstandards- und -schnittstellen zu unterstützen. Zwar dominiert bei den Feldbussen im Industrieeinsatz Profinet, aber auch hier geht es in Richtung Open Source. Die vielfach kleineren Unternehmen vermeiden es jedoch sich an diesen Standard zu binden, um mehr Gestaltungsraum zu bewahren. Das auch für harte Echtzeitanforderungen geeignete EtherCAT (Ethernet for Control Automation Technology) ist gerade im kleineren Mittelstand ein sehr gut akzeptiertes System. Neben EtherCAT wird nach wie vor auch auf CAN als Bussystem gesetzt.
Raspberry Pi Compute Modul 4: Die vierte Generation
Das Compute Modul 4 bringt von Haus aus alle Schnittstellen mit, die aktuell typischerweise benötigt werden: Dazu gehören Anschlüsse für Ethernet und USB, ein HDMI-Interface für den Monitor, eine DSI-Schnittstelle, um direkt ein Display anzuklemmen, sowie CSI-Interfaces für Kameras. Ein WLAN- und Bluetooth-Modul sorgt auf Anhieb für eine gute Connectivity. Sowohl die klassische Bauform als auch das Compute Modul verfügen über einen Broadcom-Arm-Quad-Core-Prozessor mit 1,5 GHz. Software kann über eine SD-Karte geladen werden, die auch der Datenspeicherung dient. Als solche ist aber auch die Version 4 nur in Kombination mit speziellen Maßnahmen im industriellen Umfeld zu verwenden.
Softwareseitig ist das Compute Modul kompatibel zur klassischen Bauform und eignet sich als CPU-Modul für die Realisierung eigener Baseboards. Allerdings hat sich die Raspberry Pi Foundation beim Compute Modul 4 für einen neuen Formfaktor entschieden. Während sich bei der unveränderten klassischen Bauform die Generation 3 einfach durch die Generation 4 austauschen lässt, ist beim Compute Modul eine Kompatibilität zur Version 3 nicht mehr gegeben. Derzeit wird bei Kontron an neuen Produkten auf dieser Basis gearbeitet.
Zwar zeichnet sich ab, dass die Raspberry Pi Foundation die Industrie durchaus als größtes strategisches Wachstumsfeld erkannt hat. Für den Industrieeinsatz sind solche Systembrüche jedoch eher schwer zu verdauen. Denn durch den neuen Formfaktor und das andere Pinning ist das Compute Module Version 4 hardwareseitig völlig inkompatibel zur Vorgängerversion. Bisher lässt sich die Raspberry Pi Foundation nicht in die Karten schauen, ob eine Version 5 kompatibel zur Version 4 sein wird. Für die Zielgruppe Industrie wäre dies jedoch wichtig. Denn die Langzeitverfügbarkeit ist ebenfalls ein wichtiger Punkt für den industriellen Einsatz.
Fazit
Raspberry Pi als Industrieprodukt überzeugt weder durch einen eindeutig günstigeren Preis, noch durch deutlich bessere Features. Der wichtigste Pluspunkt ist neben seiner universellen Einsetzbarkeit der vorhandene große Software-Pool. Dadurch ergibt sich oft ein wertvoller Zeitvorteil. Das ist vor allem bei Projekten mit hohem Innovationsdruck ein essenzieller Vorteil. Die vorhandene Software-Plattform ist ein mächtiges Entscheidungskriterium, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Es können fertige Projekte aus dem Internet heruntergeladen werden. Für die nächsten drei Jahre geht Kontron von einer Verdopplung des Umsatzes seiner Produkte rund um Raspberry-Pi-Produkte aus.
Dieser Artikel von Holger Wußmann, Managing Director Kontron Electronics, erschien auf www.all-electronics.de im Februar 2021.
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