Hochsicherheitstrakt für Sondermüll

WAGO Kontakttechnik GmbH & Co. KG / Minden / Deutschland

 

Die sichere Be- und Entlüftung von Gefahrbereichen gehört zum Alltagsgeschäft der industriellen Gebäudeautomation. Für die Sondermülldeponie in Kölliken, mit 500.000 Tonnen eingelagertem Gefahrgut die größte der Schweiz, mussten die Verantwortlichen die Lüftungstechnik neu erfinden. Das Vorhaben gelang. WAGO Controller steuern die Anlage, die bis zu 150.000 m³ Luft pro Stunde aus den Hallen saugt.

„Und so eine kleine CPU soll das alles steuern?“ Die Kunden von Nils Neujahr von der Dicosys Neujahr waren alles andere als überzeugt. Geradezu fragil wirken die WAGO-Komponenten in einer Umgebung, in der schon die Frequenzumrichter 800 kg (!) auf die Waage bringen. Zudem ist das Projekt umweltpolitisch von erheblicher Brisanz und ein technisches Novum, obwohl seine Anfänge schon 30 Jahre zurück liegen.

Giftiges Erbe aus den 70er Jahren
Die Sondermülldeponie Kölliken wurde 1978 in einer ehemaligen Tongrube eröffnet. Konzept und Einlagerungsbedingungen waren nach dem damaligen Wissensstand vorbildlich. Die Langzeitprobleme, wie biologische Abbauprozesse oder Abwasserbelastungen durch leichtlösliche Salze, wurden zu spät erkannt. Bereits 1985 schloss die Deponie. Nach ersten Sicherungsmaßnahmen entschied man sich für eine Gesamtsanierung, d.h. zum Rückbau. Unter freiem Himmel war dies jedoch mit unkalkulierbaren Risiken verbunden, der gesamte Bereich musste durch eine Halle hermetisch abgeriegelt werden. Dabei sollten möglichst keine Stützen die Erdarbeiten behindern. Das Resultat ist ein Stück Architekturgeschichte: die zweitgrößte Weitspannhalle Europas. Ein bis zu 170 Meter breites, freitragendes Dach überspannt die Deponie. Ortsfremde vermuten oft ein Stadion unter der Konstruktion mit den 28 markanten, weißen Bögen. An die Rückbauhalle schließen eine Lagerhalle und eine Manipulationshalle (zum Sortieren und Verpacken) an; insgesamt 46.000 m² wurden überbaut. Der sortierte Müll wird zum Teil in andere, sichere Lager gebracht oder weiter aufbereitet.

Lüftung der Superlative
Um jegliche weitere Belastung der Umwelt zu verhindern, herrschen in der Rückbau- und der Manipulationshalle ständig - 10 bis - 45 Pa Unterdruck. Bis zu 150.000 m³ Luft werden hierfür pro Stunde gefördert. Ein Grobstaubfilter für Schwebstoffe und zwei Aktivkohlefilterstufen (2x5 Filter zu je 28m³ Aktivkohle) reinigen die Abluft. Dabei lasten auf den Aktivkohlecontainern bis zu 6500 Pa Vordruck. „Das System ist relativ träge: Trotzdem muss man schnell reagieren und z.B. Bypass-Klappen öffnen oder schließen“, erläutert Nils Neujahr. „Für diese Entscheidungen kann man nicht erst Sekunden warten. Dafür ist der Druck zu dynamisch.“ So eine Extremsituationen ist z.B. die Entrauchung im Brandfall. Dann muss mindestens eine Tür geöffnet sein, um genügend Frischluft zu fördern. Würde diese Tür versehentlich geschlossen, entstünde ein ungeheurer Druckschlag: Binnen 4-5 Sekunden würde der Druck auf -150 bis -200 Pa sinken. Die Lüftung muss dann blitzartig reagieren.
Eine andere Extremsituation ist eine Beschädigung des Daches. Dafür ist die Lüftung so ausgelegt, dass selbst bei einem bis zu 4 m² großen Loch der Unterdruck gehalten wird. Nils Neujahr zu den Anforderungen: „In der Planungsphase konnten wir nur ungefähr abschätzen, welche Prozessorleistungen wir zur Verfügung stellen müssen. Auch deshalb haben wir uns für das WAGO-I/O-SYSTEM entschieden. Wir haben zunächst die programmierbaren Ethernet-Controller verwendet, wussten aber, dass wir diese bei Bedarf durch IPC-Module ersetzen können, die wesentlich mehr Kapazitäten für die Programmierung bieten. Da der Tausch ohne Eingriff in die Feldverdrahtung erfolgt, konnten wir ohne jedes Risiko zunächst die preisgünstigere Variante einsetzen.“

Träge Massen sicher und schnell gesteuert
Herausforderungen für die Steuerung gibt es reichlich in Kölliken. Derzeit drei Hauptventilatoren mit je 200 kW Anschlussleistung sorgen für den nötigen Unterdruck. Damit sie trotz ihrer Trägheits Masse von je 1,8 Tonnen mit sehr kurzen Rampenzeiten betrieben werden können, sind die eingangs erwähnten 800kg-Frequenzumrichter nötig. Schon im Normalbetrieb wird aus dem Ruhezustand die volle Leistung in nur 30 Sekunden erreicht; genau so schnell geht es zurück von Volllast auf null. Bei einem Notstopp kann ein Ventilator durch ein Widerstandbremsverfahren in nur 10 Sekunden gestoppt werden. Die Frequenzumrichter sind groß genug, um die anfallende Energie zu vernichten. Auf eine Rückführung ins Netz wurde verzichtet. Der Aufwand wäre zu hoch gewesen. Die direkt axial getriebenen Ventilatoren werden über die 50 Hz Netzfrequenz hinaus auf bis zu 65 Hz gefahren, da sie im oberen Bereich eine bessere Kennlinie aufweisen. Zudem ist die Anlage dann weniger empfindlich gegenüber äußeren Einflüssen, wie wechselnden Windverhältnissen. In der Testphase hatte sich gezeigt, dass das System unter schwacher Last bei einem Wetterumschlag ins Schwingen kommen kann. In dem jetzt eingestellten Zustand ist die Lüftung Wetterumschlägen gewachsen.

Natürlich verfügt die Deponie auch über ein Dieselaggregat. Bei einem Netzausfall darf der Hallendruck nur für kurze Zeit ansteigen. Ein Notprogramm stellt sicher, dass der Unterdruck nach spätestens 20 Sekunden wieder gesichert ist. Die Anlage läuft dann im reduzierten Betrieb bis an die maximale Stromgrenze. Durch die Stromregulierung ist die Funktionstüchtigkeit selbst dann noch gewährleistet, wenn während eines Netzausfalls ein Brand ausbricht. Während die 75 kW-Sprinklerpumpe anläuft (sie zieht dann bis zu fünf mal mehr Strom als im Normalbetrieb) wird die Lüftung kurz gedrosselt und dann wieder per Strommessung an die Lastgrenze herangefahren.

Alle Anlagenteile sind nach dem Fail-Safe-Prinzip ausgelegt. Dem kommt das WAGO-I/O-SYSTEM mit seinen umfangreichen Diagnosemöglichkeiten entgegen. Egal ob 4 – 20 mA oder PT 100: jede Störung, jeder Drahtbruch kann erfasst und sowohl lokal als auch netzwerkweit erfasst werden. Alle wichtigen Fühler und Antriebseinheiten sind redundant ausgelegt und USV-gespiesen.

Sollte einmal die Steuerung selbst ausfallen, wird über Watchdog Relais ein gesteuerter Betrieb mit konstanten Drücken und konstanten Volumina aktiviert. Die Sondermülldeponie genügt damit Sicherheitskategorien, die nur eine Stufe unter denen eines Kernkraftwerks liegen.

Sicherer Aufenthalt im Schwarzbereich
In der Rückbauhalle sind nur wenige Mitarbeiter zu Fuß oder in offenen Geländefahrzeugen unterwegs, z.B. um Bodenproben zu entnehmen. In ihren Schutzanzügen mit Atemgeräten gleichen sie in der durchwühlten Mondlandschaft eher Darstellern in einem Science-Fiction-Film als Sanierungsexperten. Für die meisten Arbeiten in der Rückbauhalle sind aber ohnehin schwere Baufahrzeuge, LKWs, Bagger usw., erforderlich. Mit hermetisch dichten Kanzeln und autarker Atemluftversorgung erlauben sie den Aufenthalt in normaler Arbeitskleidung. Selbst zwei reine Beobachtungsfahrzeuge sind vorhanden, für Kontrollgänge und für die Bauüberwachung. Papamobil haben es die Techniker in Kölliken getauft. Betreten werden die Fahrzeuge über eine spezielle Dockingstation. Das Prinzip ähnelt dem moderner Fluggastbrücken. Die beweglichen „Rüssel“ sind nur rund 20 – 30 cm lang, schließen aber luftdicht an die Fahrzeuge an. Bevor sich die Türen von Fahrzeug und Schleuse öffnen, wird der Zwischenraum mit Frischluft gespült. Der gesamte Vorgang ist automatisiert. Zugleich können die Fahrzeuge an der Dockingstation Akkus laden und Atemluft aufnehmen. Selbst eine Dieseltankstelle ist integriert. Die aufwändige Steuerung der Anlage wurde ebenfalls mit dem WAGO-I/O-SYSTEM realisiert.

One-Man-Rapid-Prototyping: Neue Technik für Altlasten
Die Anlage ist ein Prototyp, das Reinigungsverfahren gibt es bisher nur in Kölliken. Trotzdem lagen zwischen den ersten Skizzen und der Inbetriebnahme der Lüftung nur viereinhalb Monate. MSR-Auftragnehmer war die Etavis Installationen AG Zürich. Diese wiederum zog als Spezialisten für die Steuerung Nils Neujahr von der Dicosys Neujahr als Unterauftragnehmer hinzu. Seine Aufgabe war es, den Ventilatoren, Reinigungsstufen und der Dockingstation Intelligenz einzuhauchen. Eine rasch hingeworfene Skizze mit den Hallen, Ventilatoren, Reinigungsstufen und Bypässen für den Brandfall bildete die Grundlage für das erste Gespräch, nach zwei Stunden stand das Grobkonzept. Knapp 2000 Arbeitsstunden später konnte Nils Neujahr die fertige Steuerung dem Kunden übergeben. Dabei waren nicht nur technische Probleme zu knacken, dass z.B. der Funktionsplan erst während der Ausführung entstand und deshalb keine vorgefertigten Funktionsbausteine verwendet werden konnten. Es war auch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. „Wir wollten mit den WAGO-Controllern insgesamt 2,3 MW Anschlussleistung regeln, die zudem ungleichmäßig verteilt war. So war eine Unterstation vorgesehen, in der ein einziger Controller 600 kW Leistung regelte. Da waren die Auftraggeber zu Beginn sehr skeptisch. Für so eine große, teure Anlage erwartete man automatisch auch große, teure SPSen. Das konnte sich niemand vorstellen, dass so kompakte und preisgünstige Einheiten das auch können“, erläutert Nils Neujahr die Anfangsschwierigkeiten. Aber er blieb hartnäckig: „Für diese Applikation habe ich entschieden, dass es nur dieses System geben kann, um das umzusetzen. Mit WAGO haben wir in den letzten 4- 5 Jahren sehr gute Erfahrungen gemacht, vor allem in Sachen Zuverlässigkeit. Wir können Anlagen vorweisen, die seit 5 Jahren störungsfrei durchlaufen. Das hat die Leute hier beeindruckt.“ Umfangreiche Testläufe vor Ort räumten schließlich die letzten verbliebenen Zweifel aus.

Die gesamte MSR-Steuerung begnügt sich mit nur 12 Controllern. Sie erfassen in der ersten Ausbaustufe fast 1500 Hardware-Datenpunkte und ca.5000 fiktive Variablen, die alle 100 ms upgedatet werden. Durch ihre Flexibilität eignen sie sich für sehr unterschiedliche Einsätze. Einige der kleineren Programme arbeiten mit extrem kurzen Zykluszeiten von 15 – 16 ms. Die WAGO-Komponenten genügen aber auch umfangreicheren Aufgaben. Ein 450 Kbyte großes Programm z.B. wird in 20 ms abgearbeitet. „Damit hatten die Kunden bei so kleiner CPU nicht gerechnet“, freut sich Nils Neujahr. Nach einem halben Jahr Dauerbetrieb zieht er Bilanz: „Die Lüftung ist neben der Brandmeldeanlage das einzige Gewerk, das sofort ohne Störung und ohne Ausfall gelaufen ist.“ Ein überzeugendes Ergebnis für das Team Dicosys Neujahr und WAGO.

 

Autor: Dipl.-Phys. Martin Witzsch (Wago Kontakttechnik GmbH & Co. KG)

Quelle Bildmaterial: SMDK & Wago Kontakttechnik GmbH & Co. KG

Weitere Infos über Wago unter: www.wago.com

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